Egoismus: Wie viel ist zu viel?


    Mit spitzer Feder …


    (Bild: zVg)

    Das Virus bringt menschliche Eigenschaften ans Licht, die zuvor häufig gut versteckt lagen. Versteckt hinter unsichtbaren, aber festsitzenden Masken, die wir schon lange vor Corona trugen. Masken, die dafür sorgten, dass bestimmte Vorstellungen über uns Menschen sich tief in unseren Köpfen eingraben konnten. Allen voran das Mantra des egoistischen Menschen, der ohne grosse Rücksicht auf Verluste stets eigennützig denkt und handelt. Es ist bemerkenswert, zu sehen, wie schnell einige Menschen während der Corona-Pandemie eine Privatmoral entwickelt haben, eine sogenannte «Lex Ego«, mit der sie sich und anderen erklären, weshalb genau ihre Abkürzung gerechtfertigt ist, warum ihre private Einschätzung zur Legitimität des eigenen Verhaltens über dem steht, was allgemein als moralisch richtig betrachtet wird oder legal ist. Kennen Sie diese «Hoppla-jetzt-komm-ich» Menschen? Diejenigen, die vor Egoismus kaum laufen können. Gemäss meinen Erfahrungen und Beobachtungen in den letzten eineinhalb Jahren hat sich dieser Typ Mensch in den Corona-Zeiten aufs Übelste vermehrt. Allerdings wurde dieser Egoismus, gepaart mit Rücksichtlosigkeit und einer Prise Schonungslosigkeit, schon weit vor Corona gesellschaftsfähig und wird uns täglich von den Mächtigsten der Mächtigen vorbildlich vorgelebt. Man erinnere sich: Mit dem Slogan «America first» zog Donald Trump 2017 als Präsident ins Weisse Haus ein. Schon im 19. Jahrhundert beschrieb der britische Philosoph Herbert Spencer das Leben der Menschen und Staaten als nimmer endenden Kampf, in dem es um das «Überleben der Tüchtigsten» gehe. Auch Hahnenkämpfen in den sozialen Medien, die mittlerweile fast schon unabhängig vom Thema mit grosser Härte und Verbitterung geführt werden, gehören zum Alltag und zelebrieren den Egoismus geradezu.

    Egoisten mag niemand. Selbstsüchtige, ichbezogene Leute, die keine Rücksicht auf ihre Mitmenschen nehmen und sich ausschliesslich für sich selbst interessieren – zugegeben, das klingt alles andere als sympathisch. Doch Hand aufs Herz – fast jeder in seinem Umfeld kennt Menschen, die in den vielen anstrengenden Pandemie-Monaten hin und wieder egoistisch (gewesen) sind. Wohl bemerkt, haben wir als grosszügige Menschen – ich jedenfalls – vorerst vor allem Verständnis und Mitgefühl. Weil jeder das eben auch von sich kennt. Und weiss, dass unter solchen Bedingungen niemand dauerhaft unfehlbar bleiben kann. Dass das aber noch lange nicht heisst, dass man sich nicht grundsätzlich auch für die Gemeinschaft einsetzt und sozial engagiert ist. Egoismus ist bis zu einem gewissen Grad auch gesund. Doch wo liegt die Grenze zwischen gutem und schlechtem Egoismus? Denn Egoismus kann tatsächlich manchmal ausarten und Formen annehmen, wobei Menschen Grenzen überschreiten und andere unfair behandeln und benachteiligen lassen – sei dies aus Mangelgefühl, Stress, Minderwertigkeitsgefühl oder Empathielosigkeit. Unsere Gesellschaft funktioniert allerdings nur mit Egoismus. Es wird vorausgesetzt, dass Menschen dazu in der Lage sind, sich um sich selbst kümmern und dafür sorgen, dass es ihnen gut geht – sich also egoistisch verhalten. Verständlich, denn nur wem es gut geht und wer versorgt ist, kann auch einen Beitrag leisten, zum Beispiel Kinder grossziehen, arbeiten, Steuern zahlen, einkaufen etc.. Insofern ist Egoismus aus gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Sicht die einfachste und effizienteste Methode, um alles am Laufen zu halten – und somit sicherzustellen, dass es allen möglichst gut geht. Das Entscheidende und etwas, das wir oft vergessen, ist ausserdem: Egoismus ist nur ein Charakterzug von Tausenden. Wer egoistisch ist, kann dabei auch noch mitfühlend, sensibel, romantisch, sozial engagiert und sogar rücksichtsvoll sein. Wir alle sind in der Lage, unser Verhalten zumindest ein Stück weit zu kontrollieren, egoistische Impulse zu hinterfragen und ihnen nur dann zu folgen, wenn es angebracht ist. Angesichts globaler Herausforderungen wie dem Klimawandel oder der Coronapandemie sind gerade solche Kompetenzen gefragt und keine weltweite Verbreitung nationaler Egoismen. Schliesslich muss die Menschheit über Grenzen hinweg zusammenarbeiten, um die Probleme dauerhaft in den Griff zu kriegen. Hier ist eine grosse Portion gesunder Egoismus, gepaart mit viel Herz und Verstand angesagt – eine Mischung, die sich auch für jeden Einzelnen (in dieser schwierigen Situation) bewährt.

    Herzlichst,
    Ihre Corinne Remund
    Verlagsredaktorin

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